Keine automatische Offenbarung von “enthaltenen” Bestandteilen zu nicht-Enthaltenen (Neuheit)

Keine automatische Offenbarung von “enthaltenen” Bestandteilen zu nicht-Enthaltenen (Neuheit)

Ist den ursprünglichen Unterlagen der Patentanmeldung zu entnehmen, dass ein Erzeugnis bestimmte Bestandteile “enthalten” soll, ist damit nicht ohne weiteres auch als zur Erfindung gehörend offenbart, dass ihm keine weiteren Be-standteile hinzugefügt werden dürfen. Für die Offenbarung, dass es zur Erfin-dung gehört, dass das Erzeugnis ausschließlich aus den genannten Bestandtei-len “besteht”, bedarf es vielmehr in der Regel darüber hinausgehender Anhalts-punkte in den ursprünglichen Unterlagen, wie etwa des Hinweises, dass das ausschließliche Bestehen des Erzeugnisses aus den genannten Bestandteilen besondere Vorteile hat oder sonst erwünscht ist.

BGH URTEIL X ZR 75/08 vom 12. Juli 2011 – Reifenabdichtmittel

Die Berufung gegen das am 16. Mai 2008 an Verkündungs Statt zugestellte Urteil des 3. Senats (Nichtigkeitssenats) des Bundespa-tentgerichts wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.
Von Rechts wegen
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Tatbestand:
Die Beklagte ist eingetragene Inhaberin des europäischen Patents 0 753 420 (Streitpatents), das am 9. Juli 1996 unter Inanspruchnahme zweier deutscher Prioritätsanmeldungen vom 11. Juli und 8. Dezember 1995 angemel-det wurde.
Patentanspruch 1, auf den die Patentansprüche 2 bis 9 unmittelbar oder mittelbar rückbezogen sind, und Patentanspruch 18, auf den die Patentansprü-che 19 und 20 unmittelbar rückbezogen sind, haben in der englischen Verfah-renssprache des Streitpatents folgenden Wortlaut:
“1. A preparation for sealing tyres with a puncture which is intro-ducible via the valve into the tyre, characterized in that the prepa-ration contains a natural rubber latex and an adhesive resin com-patible with the rubber latex.
18. An apparatus for the sealing of punctures and pumping up of tyres, comprising a pressure-tight container (4) containing a seal-ing preparation (6) and having an outlet valve for the sealing prep-aration and also a gas inlet, and a pressure source with which gas under pressure can be introduced into the pressure-tight container via the gas inlet, characterized in that the sealing preparation (6) is according to any of claims 1 to 9.”
Die Klägerin hat geltend gemacht, der Gegenstand der Patentansprüche 1 bis 9 sowie 18 bis 20 sei nicht patentfähig. Demgegenüber hat die Beklagte das Streitpatent in der erteilten Fassung und in der Fassung von sechs Hilfsan-trägen verteidigt.
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Das Patentgericht hat das Streitpatent im angegriffenen Umfang für nich-tig erklärt.
Gegen diese Entscheidung wendet sich die Beklagte mit ihrer Berufung, wobei sie das Streitpatent zuletzt mit einem Haupt- und drei Hilfsanträgen ver-teidigt.
Nach dem Hauptantrag soll Patentanspruch 1 folgende Fassung erhal-ten:
“Verwendung eines Mittels zum Abdichten von Reifen bei Pannen durch Einführen über das Ventil in den Reifen, wobei das Mittel ei-nen Kautschuklatex und ein mit dem Kautschuklatex kompatibles Klebstoffharz enthält und wobei der Kautschuklatex im Wesentli-chen nur aus Naturkautschuklatex besteht.”
Nach Hilfsantrag I soll Patentanspruch 1 lauten:
“Verwendung eines Mittels zum Abdichten von Reifen bei Pannen durch Einführen über das Ventil in den Reifen, wobei das Mittel aus einem Kautschuklatex, einem pH-Regulator, einem mit dem Kautschuklatex kompatiblen Klebstoffharz, einem Gefrierschutz-mittel und optional einem Dispergiermittel besteht, wobei der Kaut-schuklatex im Wesentlichen nur aus Naturkautschuklatex besteht.”
Nach Hilfsantrag II soll Patentanspruch 1 folgende Fassung erhalten:
“Verwendung eines Mittels zum Abdichten von Reifen bei Pannen durch Einführen über das Ventil in den Reifen, wobei das Mittel ei-nen Kautschuklatex und ein mit dem Kautschuklatex kompatibles Klebstoffharz enthält, wobei in dem Mittel das Gewichtsverhältnis von Kautschuk zu Klebstoffharz 4:1 bis 1:1 beträgt und wobei der
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Kautschuklatex im Wesentlichen nur aus Naturkautschuklatex be-steht.”
Mit Hilfsantrag III wird folgende Fassung des Patentanspruchs 1 vertei-digt:
“Verwendung eines Mittels zum Abdichten von Reifen bei Pannen durch Einführen über das Ventil in den Reifen, wobei das Mittel aus einem Naturkautschuklatex, einem pH-Regulator, einem mit dem Kautschuklatex kompatiblen Klebstoffharz und einem Gefrier-schutzmittel besteht.”
An Patentanspruch 1 in der Fassung des Hauptantrags und der Hilfsan-träge sollen sich jeweils die erteilten Patentansprüche 2 bis 9 und 18 bis 20 mit Ausnahme des Hauptantrags umformuliert zu Verwendungsansprüchen an-schließen.
Die Klägerin tritt dem Rechtsmittel entgegen.
Im Auftrag des Senats hat Prof. Dr. Claus D. E. , Universität S. , Institut für Polymerchemie, ein schriftliches Gutachten erstattet, das er in der mündlichen Verhandlung erläutert und ergänzt hat.
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Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig, bleibt aber in der Sache ohne Erfolg.
I. Das Streitpatent betrifft ein Mittel zum Abdichten von Reifen bei Pan-nen und eine Vorrichtung zum Abdichten und Aufpumpen von Reifen bei Pan-nen mit einem druckfesten Behälter.
In der Beschreibung wird ausgeführt, dass bereits verschiedene Abdich-tmittel für Reifenpannen auf dem Markt seien. Während die meisten Latices kolloidale Dispersionen aus Polymeren in einem wässrigen Medium enthielten, gebe es auch andere Abdichtmittel, deren Trägermittel nicht Wasser, sondern Tetrachlorethylen sei. Eine aus der US-Patentanmeldung 4 116 895 (KS 29) bekannte Abdichtzusammensetzung sei dazu bestimmt, bei der Herstellung des Reifens auf dessen innerer Oberfläche aufgebracht zu werden, damit sich ein teilweise vernetzter Kautschuk bilde. Dies habe jedoch den Nachteil, dass sich das Gewicht des Reifens bzw. des Radaufbaus von Anfang an vergrößere (Rn. 3).
Ferner sei bekannt, im Falle einer Reifenpanne das Abdichtmittel aus ei-nem druckfesten Behälter mit einem verflüssigten Gas als Druckquelle (Spray-dose) durch das Reifenventil in das Innere des Reifens zu sprühen. Dabei wer-de der Reifen mittels des Treibgases auf einen bestimmten Druck aufgepumpt und dann einige Kilometer in Abhängigkeit von der Art des Defektes gefahren, um das Abdichtmittel im Inneren des Reifens zu verteilen und den Defekt abzu-dichten (Rn. 5). Bei einer anderen Vorrichtung werde der Ventileinsatz entfernt und das Abdichtmittel durch Pressen einer Flasche in den Reifen gespritzt, der Ventileinsatz wieder eingesetzt und der Reifen mit Hilfe von Kohlendioxidpatro-
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nen wieder aufgepumpt (Rn. 6). Nach den Ausführungen in der Streitpatent-schrift seien die bisher verwendeten Abdichtmittel jedoch nicht zufriedenstel-lend, weil sie leicht mechanisch entfernt werden könnten, einige von ihnen nicht ausreichend wasserfest seien und keine Abdichtung bewirkten, wenn der Rei-fendefekt an den Rändern des Reifens (Protektorauslauf) liege (Rn. 7).
Der Erfindung liegt nach den Angaben der Streitpatentschrift das Prob-lem (“die Aufgabe”) zugrunde, ein Abdichtmittel bereit zu stellen, das eine wirk-same Abdichtung auch bei Nässe sowie bei Defekten im Protektorauslauf errei-che und das mechanisch schwer zu entfernen sei. Außerdem sollen Vorrichtun-gen zum Einbringen des Abdichtmittels in den Reifen und Aufpumpen des Rei-fens auf einen Druck vorgestellt werden, bei dem der Reifen verwendet werden kann (Rn. 11).
Die Lehre aus Patentanspruch 1 in der im Hauptantrag von der Beklag-ten verteidigten Fassung umfasst folgende Merkmale:
1. Das Mittel wird verwendet zum Abdichten von Reifen bei Pan-nen durch Einführen über das Ventil in den Reifen.
2. Das Mittel enthält einen Kautschuklatex, der im Wesentlichen nur aus Naturkautschuk besteht.
3. Das Mittel enthält einen Klebstoffharz, der mit Kautschuklatex kompatibel ist.
In der Streitpatentschrift wird dem Fachmann, bei dem es sich um einen Chemiker handelt, der über vertiefte Kenntnisse und praktische Erfahrungen auf dem Gebiet der Kautschuktechnologie (natürliche und synthetische Werkstoffe und deren Verarbeitung) insbesondere im Hinblick auf die Herstellung von Ab-dichtmitteln von Reifen verfügt und sich in diesem Zusammenhang auch mit
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Dispersionsklebstoffen und Fragen der Polymerchemie beschäftigt hat, erläu-tert, dass ein Klebstoffharz “kompatibel” mit dem Kautschuklatex ist, wenn er keine Koagulation desselben verursacht. “Klebstoffharze” sind Harze, welche die Haftfähigkeit des Kautschuklatex am Reifen verbessern, wie etwa Harze, denen Elastomere als Klebrigmacher (“Tackifier”) zugesetzt worden sind (Rn. 14). Merkmal 3 schließt es aus Sicht des Fachmanns nicht aus, dass das Mittel neben einem Naturkautschuklatex auch synthetischen Kautschuk “ent-hält”. Das exklusive Vorhandensein von Naturkautschuk in dem Mittel ist in der Streitpatentschrift lediglich als “besonders bevorzugt” beschrieben (vgl. Rn. 16).
II. Das Patentgericht hat es dahingestellt sein lassen, ob dem Gegen-stand von Patentanspruch 1 in der erteilten Fassung bereits die Neuheit fehle, weil er durch die französische Patentschrift 1 016 016 (KS 4) offenbart sei. Denn jedenfalls sei der Fachmann im Prioritätszeitpunkt in der Lage gewesen, die Lehre des Patentanspruchs 1 aus der US-Patentschrift 4 501 825 (KS 6) in Verbindung mit der US-Patentschrift 4 337 322 (KS 19) in naheliegender Weise aufzufinden.
In der KS 6 sei ein Mittel zum Abdichten von Reifen bei Pannen be-schrieben, wobei das Mittel über das Ventil in den Reifen einführbar sei. Dieses Mittel enthalte neben anderen Bestandteilen einen Kautschuklatex und ein Klebstoffharz. Zwar sei nicht ausdrücklich angesprochen, dass das Klebstoff-harz mit dem Kautschuklatex kompatibel sei. Dem Fachmann, der auch wisse, dass Phenolharze zu den gebräuchlichsten Additiven in der Kautschuk-Verarbeitung zählten, werde jedoch mangels gegenteiliger Hinweise aus der KS 6 den Schluss ziehen, dass mit dem Einsatz von Phenolharzen als Klebharz die Eigenschaften von Kautschuklatices nicht beeinträchtigt würden und Phe-nolharze deshalb keinerlei Koagulation der Latices verursachten. Da das in der KS 6 beschriebene Abdichtmittel zum Zeitpunkt der Anwendung bei einer Rei-
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fenpanne fließfähig sei, müsse das in KS 6 verwendete Klebstoffharz zwangs-läufig auch kompatibel mit dem Kautschuklatex sein.
Als Material für den Kautschuklatex schlage die KS 6 vor, Polymere und/oder Copolymere von Isopren, Styrol und Butadien einzusetzen. Zwar gehe aus der Stoffangabe Polyisopren nicht ausdrücklich hervor, dass Naturkaut-schuk – aufgrund der gleichen chemischen Zusammensetzung – ein Mittel der Wahl sei, zumal in den Beispielen der KS 6 ein solcher nicht genannt sei. Aller-dings werde der Fachmann Naturkautschuk als Polyisopren schon deshalb in seine Überlegungen einbeziehen, weil in der Beschreibungseinleitung der KS 6 als Stand der Technik auf die US-Patentschrift 4 337 322 (KS 19) Bezug ge-nommen werde, aus der ein Reifenabdichtmittel hervorgehe, das neben ande-ren Bestandteilen ebenfalls Polyisopren und zwar in Form eines Naturkaut-schuklatex enthalte. Damit verdeutliche die KS 19, dass es sich bei Polyisopren und Naturkautschuk um für den Fachmann auf dem Gebiet der Reifenabdicht-mittel überschneidende Begriffe und um zwei nicht klar voneinander abgrenzba-re Stoffe handele. Deshalb werde der Fachmann, wenn er mit der Entwicklung eines Reifenabdichtmittels befasst sei, bei dem Hinweis auf Polyisopren zwangsläufig auch Naturkautschuklatex als parates Mittel in Erwägung ziehen und zwar unabhängig von der Bezeichnung in der jeweiligen Veröffentlichung.
Auch der Einwand der Beklagten, der Fachmann beziehe die KS 6 nicht in seine Überlegungen mit ein, weil es sich um die Bereitstellung eines Abdicht- mittels auf Basis synthetischer Kautschuklatices handele, überzeuge nicht. Im Streitpatent sei auch der Einsatz von Synthesekautschuklatices als geeignet beschrieben, darunter auch Styrolbutadienlatex. Die Verwendung von natürli-chen Kautschuklatices allein als Kautschuklatex sei lediglich eine besonders bevorzugte Ausführungsform. Die von der Beklagten weiter geltend gemachten Vorteile, insbesondere unerwartete Vorteile des erfindungsgemäßen Abdicht-
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mittels, qualifizierten dieses ebenfalls nicht als Ergebnis einer erfinderischen Tätigkeit.
Wegen fehlender erfinderischer Tätigkeit nicht rechtsbeständig seien überdies die Unteransprüche im angegriffenen Umfang sowie die Fassungen des Patentanspruchs 1, mit denen die Beklagte das Streitpatent hilfsweise ver-teidigt habe.
III. Die Überlegungen des Patentgerichts halten den Angriffen der Beru-fung auch hinsichtlich der mit Haupt- und Hilfsanträgen verteidigten Fassung des Patentanspruchs 1 im Wesentlichen stand.
1. Dem Gegenstand von Patentanspruch 1 in der Fassung des Haupt-antrags fehlt die Patentfähigkeit (Art. 52 EPÜ).
a) Die Lehre aus Patentanspruch 1 ist allerdings neu (Art. 54 EPÜ). Wie sich aus den oben wiedergegebenen Ausführungen des Patentgerichts in dem mit der Berufung angegriffenen Urteil ergibt und zwischen den Parteien auch nicht streitig ist, offenbart die US-Patentschrift 4 501 825 (KS 6) zwar ein Mittel zum Abdichten von Reifen, das mit Ausnahme der näheren Definition der La-texkomponente der Lehre des Patentanspruchs 1 entspricht. Insbesondere konnte der Fachmann der Entgegenhaltung die Verwendung des Mittels zum Abdichten von Reifen bei Pannen durch Einführen über das Ventil in den Reifen im Pannenfall entnehmen (vgl. KS 6, Sp. 2 Z. 53 ff.).
Nicht offenbart ist jedoch das Merkmal 2, wonach das Mittel einen Kaut-schuklatex enthalten soll, der im Wesentlichen nur aus Naturkautschuklatex besteht. In der Vorveröffentlichung wird zwar ausgeführt, dass als Latexkompo-nente alle geeigneten polymerischen oder copolymerischen Latices, wie Poly-mere oder Copolymere von Isopren, Styrol und Butadien in Betracht kommen (K 6, Sp. 3 Z. 44 ff.). Zudem war dem Fachmann bekannt, dass Naturkautschuk
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ein Polymer von Isopren ist. Unter die abstrakte Bezeichnung “Polymere oder Copolymere von Isopren, Styrol und Butadien” fallen jedoch mehrere Tausend natürliche oder synthetische Verbindungen (vgl. die gutachterliche Stellung-nahme von Prof. Dr. Dr. W. vom 21.1.2011, E 24), und Naturkaut- schuk wird weder an dieser noch an einer anderen Stelle der Entgegenhaltung ausdrücklich als mögliche Latexkomponente erwähnt. Es kann daher nicht an-genommen werden, dass es aus fachlicher Sicht selbstverständlich gewesen ist und deshalb keiner besonderen Offenbarung bedurfte, Naturkautschuk als La-texkomponente auszuwählen (vgl. Senat, Urteil vom 16. Dezember 2008 – X ZR 89/07, Rn. 26, BGHZ 179, 168, 174 – Olanzapin).
b) Der Gegenstand von Patentanspruch 1 in der Fassung des Hauptan-trags ergab sich für den Fachmann allerdings in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik (Art. 56 EPÜ).
Wie dargelegt wurde dem Fachmann in der KS 6 ein Mittel zum Abdich-ten von Reifen bei Pannen durch Einführen über das Ventil offenbart, welches unter anderem ein Klebstoffharz enthält, das mit der Latexkomponente kompa-tibel ist. Hinsichtlich der genauen Art des zu verwendenden Latex erhielt er aus der Entgegenhaltung die Anregung, dafür ein geeignetes Polymer oder ein Co-polymer von Isopren, Styrol und Butadien zu nehmen (K 6, Sp. 3 Z. 44 ff.). Zwar wird als insoweit bevorzugte Latexkomponente ein Styrol-Butadien-Copolymer genannt, das unter der Marke Pliolite 5336 von Goodyear erhältlich ist, einen Butadiengehalt von über 50 % aufweist und auf der Basis von Fettsäureemulsi-on hergestellt ist (KS 6, Sp. 3 Z. 47 ff.), und dieses Latex (Pliolite Latex) wird auch in Ausführungsbeispiel 1 der Entgegenhaltung zur Herstellung des Ab-dichtmittels eingesetzt (KS 6, Sp. 5 Z. 31, 38). Jedoch schloss dies aus Sicht des Fachmanns auf Grundlage der allgemeinen Erläuterungen in der Entge-genhaltung, dass insoweit “jedes geeignete Polymer oder Copolymer von Isop-ren, Styrol und Butadien” in Betracht kommt, nicht aus, als Latexkomponente
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auch einen anderen Latex als das ausdrücklich genannte Produkt Pliolite 5336 oder ein sonstiges Copolymer von Styrol und Butadien zu nehmen. Als eine solche alternative Latexkomponente bot sich dem Fachmann nach den über-zeugenden Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen in der mündli-chen Verhandlung ein Naturkautschuklatex als (Mono-)Polymer von Isopren an. Für diese Alternative sprach zunächst die Überlegung, dass für die Herstellung von Reifen üblicherweise Mischungen aus Styrol-Butadien (SBR [Styrene-Butadiene-Rubber]) und Naturkautschuk verwendet werden und die Verwen-dung eines Naturkautschuklatex es daher wie bei der von der KS 6 ausdrücklich gelehrten Benutzung eines Styrol-Butadien-Copolymers erlaubte, für die Latex-komponente eines Mittels zur Abdichtung von Reifen, das sich fest und dauer-haft mit dem Reifen verbinden soll, auf einen Reifengrundstoff zurückzugreifen. Hinzu kamen die hervorragenden elastomeren Eigenschaften des aus Latex ausgefällten und aufgearbeiteten Naturkautschuks aufgrund des hohen Anteils von cis-1,4-Polyisopren (vgl. Gutachten, S. 10 f.), die aus fachlicher Sicht Na-turkautschuklatex als eine realistische Alternative zu Styrol-Butadien als Latex-komponente erscheinen ließen.
In diesen Überlegungen konnte sich der Fachmann dadurch bestätigt sehen, dass in der KS 6 bei der Darstellung des Standes der Technik auf die US-Patentschrift 4 337 322 (KS 19) verwiesen und dabei ausgeführt wird, dass diese eine Zusammensetzung für die Radauswuchtung und Abdichtung offen-bart, die neben anderen Komponenten aus Polyisopren besteht. Der KS 19 konnte der Fachmann dann bei der Beschreibung der bevorzugten Ausfüh-rungsform entnehmen, dass als Polyisopren ein ungehärteter Naturlatex einge-setzt werden kann bzw. das Polyisopren in der Form von natürlichem Latex-kautschuk (natürlichem Poly-cis-1,4-polyisopren) in dem Abdichtmittel enthalten ist (KS 19, Sp. 2 Z. 12, 21 ff.). Dies war geeignet, den Fachmann darin zu be-
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stärken, für das Abdichtmittel als Latexkomponente einen Naturkautschuklatex in Erwägung zu ziehen.
Das wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass die KS 19 vor allem die vorbeugende Behandlung eines Reifens gegen Perforationen betrifft und die Reparatur eines bereits platten Reifens nicht erwähnt (vgl. K 19, Sp. 1 Z. 29 ff.; Sp. 2 Z. 53 ff.). Denn dabei handelt es sich vornehmlich um einen anwendungs-technischen Unterschied, der es, wie die Erörterung mit dem gerichtlichen Sachverständigen bestätigt hat, aus fachlicher Sicht jedenfalls nicht aus-schließt, die Verwendung des in der KS 19 als Polyisoprenkomponente vorge-schlagenen natürlichen Kautschuklatex als Latexkomponente des in der KS 6 vorgeschlagenen Abdichtmittels in Erwägung zu ziehen.
Zwar sind die Ausführungen der Beklagten zutreffend, dass es sich bei den in der KS 6 neben Polymeren oder Copolymeren von Isopren genannten beiden anderen Latices (Polymere oder Copolymere von Styrol und/oder Buta-dien) um synthetische Kautschuklatices handelt. Dies rechtfertigt jedoch nicht den Schluss, dass auch mit dem Begriff der Polyisoprene, der nach allgemei-nem Verständnis sowohl natürliche als auch synthetische Polymere des Isopren umfasst, lediglich synthetische Polymere des Isoprens gemeint sind. Ein derart eingeschränktes fachliches Verständnis wird durch die KS 6 nicht veranlasst, wie der gerichtliche Sachverständige überzeugend in seinem Gutachten ausge-führt und in der Verhandlung bestätigt hat. Der Beklagten kann daher nicht in dem Argument gefolgt werden, dass die Beschreibung der Entgegenhaltung ganz (ausschließlich) auf die Verwendung von synthetischem Latex ausgerich-tet sei. Dies verkennt den Begriff des Polyisoprens, der nach allgemeinem Ver-ständnis neben synthetischen auch natürliche Polymere von Isopren umfasst und der auch im Offenbarungsgehalt der KS 6 nicht eingeschränkt worden ist.
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Es mag sein, dass sich Naturkautschuklatex und synthetischer Latex insbesondere auch von Polyisopren hinsichtlich ihrer Zusammensetzung und ihrer Eigenschaften (Stereoisomerenreinheit, Molekulargewicht und Molekular-verteilung, Anwesenheit funktioneller Gruppen und Art der vorhandenen Grup-pen) unterscheiden, wie von der Beklagten im Einzelnen ausgeführt worden ist. Es ist aber nicht ersichtlich und von der Beklagten auch nicht dargetan worden, inwiefern diese Unterschiede den Fachmann am Prioritätstag des Streitpatents davon hätten abhalten sollen, entsprechend der Anregung in KS 6 natürliches Polyisopren als Latex in Betracht zu ziehen und – wie dargelegt – gestützt auf sein Fachwissen und entsprechend der Anregung in der KS 19, auf die in der KS 6 hingewiesen wird, bei der Herstellung des Reifendichtmittels zu verwen-den.
2. Der Gegenstand von Patentanspruch 1 in der Fassung des Hilfsan-trags I geht über den Inhalt der ursprünglich eingereichten Anmeldung hinaus und ist daher nicht zulässig (Art. 123 Abs. 2 EPÜ).
Zur Feststellung einer unzulässigen Erweiterung ist der Gegenstand des erteilten Patents mit dem Inhalt der ursprünglichen Unterlagen zu vergleichen. Der Inhalt der Patentanmeldung ist der Gesamtheit der Unterlagen zu entneh-men. Der Patentanspruch darf nicht auf einen Gegenstand gerichtet werden, den die ursprüngliche Offenbarung aus Sicht des Fachmanns nicht zur Erfin-dung gehörend erkennen lässt (Senat, Urteil vom 5. Juli 2005 – X ZR 30/02, GRUR 2005, 1023, 1024 – Einkaufswagen II; Urteil vom 22. Dezember 2009 – X ZR 28/06, Rn. 29, GRUR 2010, 513 – Hubgliedertor II). Dies ist jedoch hier der Fall.
Patentanspruch 1 in der Fassung des Hilfsantrags I unterscheidet sich von selbigem in der Fassung des Hauptantrags dadurch, dass nicht mehr nur vorgesehen ist, dass das Abdichtmittel, dessen Verwendung im Pannenfall un-
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ter Schutz gestellt werden soll, einen (Natur-)Kautschuklatex und ein mit die-sem kompatibles Klebstoffharz “enthält”, sondern dass das Abdichtmittel aus einem (Natur-)Kautschuklatex, einem pH-Regulator, einem mit dem Kautschuk- latex kompatiblen Klebstoffharz und optional einem Dispergiermittel “besteht”. Dies ist – wie auch die Beklagte in der Verhandlung ausgeführt hat – aus fachli-cher Sicht dahin zu verstehen, dass das erfindungsgemäße Abdichtmittel aus-schließlich aus den genannten Bestandteilen bestehen darf, wobei lediglich das Dispergiermittel nicht zwingend enthalten sein muss. Insbesondere dürfen dem erfindungsgemäßen Abdichtmittel damit auch keine Füllstoffe, wie etwa faserige Materialien, zugesetzt worden sein. Gerade auf das Fehlen solcher faserigen Materialien, auf das im ursprünglich formulierten Hilfsantrag IV ausdrücklich abgestellt worden war, zielt erklärtermaßen die von der Beklagten gewählte An-spruchsfassung.
Die Verwendung eines Abdichtmittels im Pannenfall, das ausschließlich aus einem (Natur-)Kautschuklatex, einem pH-Regulator, einem mit dem Kaut-schuklatex kompatiblen Klebstoffharz besteht und dem allein ein Dispergiermit-tel wahlweise zugegeben werden durfte, wird dem Fachmann in der ursprüngli-chen Anmeldung jedoch nicht als zur Erfindung gehörend offenbart. In den ge-samten Anmeldungsunterlagen findet sich an keiner Stelle ein Hinweis darauf, dass eine derart exklusive Zusammensetzung des Abdichtmittels, die vor allem auch keine Füllstoffe aufweist, besondere technische Vorteile hat oder sonst erwünscht ist und deshalb vom Fachmann als zur Erfindung gehörend angese-hen wird.
In der Anmeldung wird zwar, worauf die Beklagte insoweit zutreffend im Verhandlungstermin hingewiesen hat, ein Ausführungsbeispiel beschrieben, bei dem ein Abdichtmittel durch Mischen von Naturkautschuklatex (300 g Natur-kautschuklatex mit einem Kautschukgehalt von 60 Gew.-%), das einen pH-Regulator (Ammoniak) enthält, unter einen Klebstoffharz (120 g Terpenphenol-
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harzdispersion mit einem Harzgehalt von 55 Gew.-% [Dermulsene®]) und nach Zugabe eines Gefrierschutzmittels (67 g Ethylenglycol) hergestellt wurde (vgl. Rn. 49). Damit wurde dem Fachmann jedoch lediglich ein Abdichtmittel als er-findungsgemäß offenbart, das die genannten Bestandteile enthält, nicht aber ein solches, das (ausgenommen die wahlweise Zugabe von Dispergiermittel) exklusiv aus diesen Komponenten bestehen und damit insbesondere auch kei-ne Füllstoffe, wie etwa faserige Materialen, umfassen darf. Vielmehr wird an anderer Stelle in der Anmeldung die Zugabe von einem oder mehreren Füllstof-fen wie etwa faserigen Materialien als für eine rasche Abdichtung oder für die Abdichtung größerer Löcher vorteilhaft gelehrt (Rn. 20), ohne dass eine solche Zugabe im Hinblick auf das Ausführungsbeispiel ausgeschlossen wird, so dass aus fachmännischer Sicht insoweit kein Grund zu der Annahme besteht, dass die Aufzählung der in dem Ausführungsbeispiel genannten Komponenten zwin-gend als abschließend zu verstehen ist.
3. Der Gegenstand von Patentanspruch 1 in der Fassung des Hilfsan-trags II, der sich von Patentanspruch 1 in der Fassung des Hauptantrags durch das zusätzliche Merkmal unterscheidet, dass das Gewichtsverhältnis von Kaut-schuk zu Klebstoffharz 4:1 bis 1:1 betragen soll, ist zulässig, aber nicht patent-fähig.
War es für den Fachmann – entsprechend den obigen Ausführungen zu Patentanspruch 1 in der Fassung des Hauptantrags – naheliegend, als Alterna-tive zu Styrol-Butadien-Latex Naturkautschuklatex in Erwägung zu ziehen, so stellte sich ihm bei der Formulierung einer konkreten Rezeptur die Frage nach dem Gewichtsverhältnis von Kautschuk zu Klebstoffharz. Der KS 6 entnahm er insoweit gemäß der allgemeinen Definition der Mischung in der Beschreibung (KS 6, Sp. 3 Z. 9 ff.) und in Patenanspruch 1, dass der Massenanteil von Harz und Latexdichtmittel jeweils zwischen 20 – 40 % liegen kann. Da die Entgegen-haltung keine näheren Angaben zu dem Gewichtsverhältnis von Kautschuk zu
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Klebstoff enthält, lag für den Fachmann, wie auch das Patentgericht angenom-men hat, im Hinblick auf die parallelen Bereichsangaben der Massenanteile von Harz und Latexdichtmittel die Annahme nahe, dass der Feststoffanteil in der wässrigen Phase bei dem Harz und dem Latexdichtmittel in etwa identisch ist, so dass die in der KS 6 offenbarten Gewichtsverhältnisse von Kautschuk zu Klebstoffharz in einem Bereich von etwa 1:2 bis etwa 2:1 liegen. Dabei liegt, wie auch der gerichtliche Sachverständige im Verhandlungstermin bestätigt hat, die genaue Bestimmung des Gewichtsverhältnisses von Kautschuk und Klebstoff-harz für das bei Reifenpannen zu verwendende Dichtmittel im “Erprobungser-messen” des Fachmanns, wobei es diesem aufgrund seines Fachwissens auch bekannt ist, das ein verhältnismäßig hoher Anteil von Kautschuk die elastome-ren Eigenschaften des Dichtmittels verbessert, so dass er auch unter diesem Gesichtspunkt motiviert ist, den Gewichtsanteil von Kautschuk nicht geringer, sondern höher als den von Klebstoffharz zu bestimmen.
4. Dass der Gegenstand von Patentanspruch 1 in der Fassung des Hilfsantrags III über den Inhalt der ursprünglichen Anmeldung hinaus geht und daher nicht zulässig ist, folgt ohne weiteres aus den Ausführungen zu Pa-tentanspruch 1 in der Fassung des Hilfsantrags I, weil sich Patentanspruch 1 in der Fassung der Hilfsanträge I und III lediglich darin unterscheiden, dass die optionale Zugabe von Dispergiermittel nicht mehr erlaubt ist.
5. Dass die jeweils auf Patentanspruch 1 in der Fassung des Hauptan-trags und der drei Hilfsanträge rückbezogenen Patentansprüche 2 bis 9 auf ei-ner erfinderischen Tätigkeit beruhen, ist bereits vom Patentgericht verneint worden. Es ist auch unter Berücksichtigung der Neufassung des Patentan-spruchs 1 als Verwendungsanspruch weder von der Beklagten dargelegt wor-den noch sonst ersichtlich, dass die Beurteilung des Patentgerichts fehlerhaft wäre. Gleiches gilt hinsichtlich des Patentanspruchs 18 und der auf diesen rückbezogenen Patentansprüche 19 und 20; die Patentfähigkeit des Gegen-
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stands dieser Vorrichtungsansprüche hat auch die Beklagte nur mit denjenigen Erwägungen gerechtfertigt, die sie zum Gegenstand des Patentanspruchs 1 angeführt hat.
IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 121 Abs. 2 PatG und § 97 Abs. 1 ZPO.

Vorinstanz:
Bundespatentgericht, Entscheidung vom 16. Mai 2008 – 3 Ni 48/07 (EU) –
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